Stefan Barcsay im Gespräch mit:  


>> LARISA VRHUNC. Komponistin aus Slowenien


>> GERALD FIEBIG, Lyriker, Audiokünstler


>> MARTIN WILKENING, Musikpublizist


GESPRÄCH MIT DEM MUSIKPUBLIZISTEN MARTIN WILKENING

Stefan, die Musik der slowenischen Komponistin Larisa Vrhunc beschäftigt dich ja schon einige Zeit. Du hast ihr Stück „Na vetru (Im Wind)“ oft im Konzert aufgeführt und auch auf deiner CD „Nacht und Träume“ eingespielt. Die Anregung zu „Pietà“ kam direkt von dir, und das Stück ist dir auch gewidmet.

10 Jahre musste ich warten auf dieses Stück, das Larisa für mein Projekt AUF DEM WEG ZUR PIETÀ geschrieben hat, zu dem mich die Pietà-Gruppe des Hans von Judenburg aus dem Dom zu Bozen inspirierte. Ende 2019 hielt ich dann die lange erwarteten Noten in der Hand und war zunächst erschrocken über das, was ich mir da „bestellt“ hatte – es erschien mir beim ersten Lesen sehr schwer, fremdartig, bis in den einzelnen Klang hinein unverständlich. Nun lag das Stück einige Wochen herum, bevor ich mich etwas verzweifelt daran machte. „Ich musste es doch spielen, immerhin hatte ich es bestellt“.

Anfang 2020, im ersten Lockdown, begann ich das Üben, es war eine ratlose Zeit, alle Konzerte waren abgesagt und ich wollte etwas Sinnvolles tun. Die erste Zeit des Übens war eine Katastrophe, ich kapierte gar nichts, musste jede Anweisung neu erlernen. So vergingen ein paar Tage, aber dann ging das Lernen immer schneller. Und das war eine großartige Erfahrung. Konnte ich anfangs nur 5 Minuten an dem Stück arbeiten, gelang es mir nach wenigen Wochen das Stück ganz zu spielen, und heute ist es so als ob ich es schon immer gespielt hätte.

Die Uraufführung fand dann im selben Jahr in Ljubljana statt.

Die Reise zum Konzert war etwas abenteuerlich, Coronazeit. So war der Wurzenpass, über den ich eigentlich fahren wollte, gesperrt (was ich erst erfahren habe, als ich kurz davor war), und wenige Tage nach dem Konzert waren die Grenzen komplett geschlossen.

Larisa hatte die Uraufführung am 15. September 2020 in der Franziskaner-Kirche im Zentrum von Ljubljana organisiert. Das Konzert, zu dem ich mehrere Stücke aus meinem Programm AUF DEM WEG ZUR PIETÀ spielte, wurde vom Staatlichen Slowenischen Rundfunk aufgezeichnet und später gesendet. Die jüngere Tochter von Larisa las dazu Texte aus dem Stabat Mater.

Du hast von den Anfangsschwierigkeiten beim Erarbeiten des Stücks gesprochen. Die Partitur ist ja in einer doppelten Notationsweise angelegt, auf einem System mit dem klanglichen Resultat und auf einem anderen System mit den spielpraktischen Anweisungen. Das hat vor allem mit der Scordatur zu tun, der Umstimmung von zwei Saiten, aber auch mit den stark differenzierten Arten der Tonerzeugung, an der die rechte und die linke Hand beteiligt sind. Könntest du dazu noch einmal ein Beispiel geben, was dir im Verlauf des Einstudierens eine besondere Erfahrung ermöglicht hat?

Ja das mache ich gern. Da ist gleich am Anfang der Partitur etwas, wenn Larisa schreibt „intense finger tap; both pitches should be audible“. Nur mit dem kräftigen Aufschlagen des Fingers der linken Hand soll also ein Zweiklang entstehen. Das ist man als Gitarrist so gar nicht gewohnt, mit einer Aufschlagbewegung zwei Töne zu erzeugen. Normalerweise benutzt man diese Art der Tonerzeugung bei einer Bindung, was heisst, ich schlage den ersten Ton mit der rechten Hand an den zweiten erzeuge ich nur mit Hilfe der linken Hand. Hier ist es so dass ich nur mit der linken Hand eine Bewegung machen soll und dabei sollen zwei Töne erklingen. Das geht, weil man es so machen kann, das beide Teile der abgegriffenen Saite schwingen. Ein Ton schwingt rechts vom Finger der linken Hand der andere links davon. Das erfordert ein ständiges gutes Hinhören und man muss sich immer wieder fragen, ob tatsächlich zwei Töne erklingen. Das ist eine schöne Erfahrung, wie Larisa immer wieder neue Klänge sucht, denen ich nachspüren darf. Interessant ist zum Beispiel auch, wie durch das Entlangstreichen des Nagels der rechten Hand am Steg der Gitarre der Klang eines südamerikanischen Rhythmusinstruments, des Guiro, nachgeahmt wird. Und natürlich das Hören auf die Vierteltönigkeit, die wir ja so gar nicht gewohnt sind. Zwar höre ich sehr gern indische Sitar-Musik oder pakistanische Sufimusik, wie z.B. von Nusrat Fateh Ali Khan, aber wenn man dann selber Vierteltöne differenziert, ist das schon eine Herausforderung.

Den Bereich der Vierteltöne erschließt die Musik ja durch das Umstimmen. Die H-Saite wird um einen Dreiviertelton tiefer gestimmt. Das zielt direkt auf eine expressive Qualität, denn dadurch werden zwischen zweiter und dritter Saite in höherer Lage vierteltönige Melismen möglich, melodische Linien, die vom Ausdruck her die Sphäre orientalischer Musik berühren. Beim Hören klingt das ganz natürlich, wahrscheinlich auch, wenn man es einmal griff- und anschlagstechnisch, sozusagen vom Körper her, „begriffen“ hat. Vom Notentext her ist es wegen der Scordatur schwer zu verstehen. Diese melismatischen Motive bilden in der ersten Hälfte des Stückes eine klare horizontale Linie. Sie werden verlängert und verkürzt und einer ebenso deutlich ausgeprägten vertikalen Struktur gegenübergestellt, sechsstimmigen nachklingenden Akkorden. Das kann man als Wechselspiel von Expressivität und Gefasstheit verstehen, von Ausdruck und Verinnerlichung, wenn man so will, von Klage und Trost. Auf jeden Fall erschließt sich damit auch der ganze Bereich der Symbolik des Kreuzes. Und wenn wir die symbolische Ebene berühren: Es ist vielleicht auch kein Zufall, dass der Tonraum, in dem sich diese Melismen entfalten, gerade sieben Vierteltöne umfasst. Die Sieben ist in theologischer Zahlensymbolik eine Zahl mit einer Fülle von Bedeutung, letztlich wohl ein Verweis auf die Einheit von menschlicher und göttlicher Welt.

Larisa schreibt im ursprünglichen Vorwort zum Stück, das die Zahl sieben eine wichtige Rolle im Aufbau des Stückes spielt. Für sie spiegeln sich darin die sieben Schmerzen Mariens ebenso wie die sieben Teile einer Vertikalen, die sie in der Pietà-Gruppe des Hans von Judenburg erkennt.

Die ja auch eine auffällig ausgeprägte Kreuzstruktur zeigt.

Ja, und noch einmal die Sieben, praktisch sogar das Kreuz: Für das ganze Stück wird die Gitarre im siebten Bund quer über die drei hohen Saiten mit einer Büroklammer präpariert, die die Schwingungen teilweise bricht und etwas Geräuschhaftes in den Klang bringt. Aber für mich gibt es, jenseits solcher abstrakten Symbolik, einen sehr direkten Zugang, für mich spiegelt Larisas Musik die ganze Sehnsucht und Tiefe der Pietà wieder. Larisa sagt, ihre Pietà hätte einen autobiographischen Anteil, wobei sie von der Krankheit ihrer Tochter sprach. Vom ersten Ton an, den ich spiele, empfinde ich eine meditative Stille, ein Hineingleiten in eine beobachtende Aufmerksamkeit. Mit der Pietà von Larisa Vrhunc konnte ich viel über Musik und mich erfahren.

Dieses Hineingleiten in einen anderen Bewusstseinszustand ist ja vielleicht auch etwas, das sich in der Form des Stückes selbst abspielt. Auf mich wirkt es zweiteilig, und beide Teile bilden sehr unterschiedliche Ausdrucksebenen. Im ersten Teil werden rein instrumental quasi vokale Linien innerhalb eines größeren Klangraumes gezogen. Dieser Klangraum ist durch die säulenhafte Architektur der nachklingenden Akkorde gekennzeichnet, aber auch durch Klänge, die entfernt an Glocken erinnern können, gebrochen durch etwas Geräuschhaftes. Die Komponistin schreibt auch selbst von der Erinnerung an Klänge „gebrochener Glocken“. Im zweiten Teil dann verschwinden diese quasi vokalen Motive völlig, die Musik wird insgesamt noch geräuschhafter, schattenhafter, und es tritt nun wirklich eine vokale Stimme hinzu. Aber, das ist paradox, abgelöst von körperhafter Schwingung und Resonanz, nämlich nur als Flüsterstimme. Das ganze wirkt wie ein Prozess zunehmender Konkretisierung des Ausdrucks, durch die Benennung im Wort, aber gleichzeitig geschieht dies als Verinnerlichung, wie für sich selbst, die äußerlichen Ausdrucksmittel werden mehr und mehr abgezogen, fast wirkt es beim Hören so, als erreichten die Klänge jetzt nur mehr aus großer Entfernung einen Innenraum.

Der Text - es sind aber nur wenige Schlüsselworte und einzelne damit verbundene Laute - kommt aus zwei Quellen. Der Text ist zum einen aus „Der Prophet“ von Khalil Gibran, dem Dichter-Philosophen aus dem Libanon. Larisa verwendet in ihrem Stück Fragmente aus “ On Joy and Sorrow “, auf Deutsch “ Von der Freude und vom Leid”. Diese Reflexion Gibrans stellt für mich eine Zusammenfassung der philosophischen und religiösen Aspekte der Pietà dar. Das zweite Textfragment, das sie verwendet, sind zwei Zeilen aus dem Stabat Mater: “ In me sistat dolor tui“ bzw. „Iuxta crucem tecum stare,“. Es geht um die Identifikation im Schmerz – dem Schmerz einer Mutter über den toten Sohn.

Die ersten geflüsterten Worte, die man als Hörer deutlich versteht, sind „sorrow“ und „unmasked“ – was eine merkwürdige Beziehung zu unserer Dauermaskierung zeigt. „Unmaskierter Schmerz“? „Deine Freude ist dein unmaskierter Schmerz“, verkündet Gibrans Prophet seinen Zuhörern. Für ihn gehört beides zu den Grundbedingungen menschlicher Existenz. Vielleicht noch ein paar Anmerkungen zu Khalil Gibran. Er wechselte in seinem nicht sehr langen Leben mehrmals zwischen dem Libanon und den USA und schrieb auf Arabisch und Englisch. Sein bekanntestes Buch „Der Prophet“ gehört zu den Klassikern der spirituellen Literatur. Auf Deutsch erschien der im Original englische Text zum ersten Mal 1925, fast zur gleichen Zeit wie Hermann Hesses „Siddharta“, mit dem er viele Gedanken teilt. Allein in den letzten zwanzig Jahren kamen neun neue deutsche Übersetzungen heraus, teilweise auch mit seinen eigenen mystischen Illustrationen. In seiner Meditation über Freude und Leid gibt der Prophet übrigens auch ein schönes Beispiel für die Verbundenheit von Freude und Schmerz in einer ganzheitlichen Sicht – ein Beispiel, das direkt die Musik und ein mit der Gitarre verwandtes Instrument heranzieht. Da heißt es:

„ Ist nicht der Becher, der euren Wein fasst, dasselbe Gefäß,
das einst im Ofen des Töpfers gebrannt wurde?

Und ist nicht die Laute, die euch den inneren Frieden bringt,
aus demselben Holz, das einst mit Messern ausgehöhlt wurde?

Wenn ihr voll Freude seid, schaut tief in euer Herz,
und ihr werdet finden, dass nur das, was euch Leid bereitet hat, auch Freude beschert.“

Für mich ist es immer wieder eine große Freude, dass Larisa dieses Stück geschrieben hat. Ich erinnere mich gerne an die Tage in Ljubljana und hoffe, das Stück bald wieder und noch oft aufführen zu können. Auf meinem Youtube-Kanal ist eine Life-Einspielung des Stückes von einem Konzert im „Abraxas“ in Augsburg zu hören.


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GESPRÄCH MIT DEM LYRIKER UND AUDIOKÜNSTLER GERALD FIEBIG

Hallo Gerald, vielen Dank, dass Du Dich bereit erklärt hast, dieses Interview mit mir zu führen.

Nichts zu danken! Ich bin dir dankbar für die Einladung dazu. 

 Ich habe diese Art der Kommunikation mit Künstlern in der Zeit des Lockdowns gewählt, um für mich selbst eine kreative Auseinandersetzung mit der Kunst zu führen und weil ich der Meinung bin, umso mehr ich über die Arbeit anderer weiß und mit der Arbeit derer in Kontakt trete und mich damit beschäftige, desto mehr bin ich fähig, diese Arbeit auch emotional umzusetzen. 

 Das finde ich eine sehr schöne Idee. Nicht nur, weil es in der Musik ja generell um Kommunikation geht – wenn auch auf einer nichtsprachlichen Ebene. Sondern auch ganz konkret wegen dem Austausch zwischen uns beiden. Denn du warst ja wagemutig genug, mich um Stücke für ein gemeinsames Programm zu bitten, nachdem wir einander erst ganz kurz kannten. Und obwohl ich ja jetzt kein klassisch ausgebildeter Komponist mit einschlägigen Referenzen bin. Für diese Einladung, und auch die zu diesem Gespräch, möchte ich mich erst mal noch ganz herzlich bei dir bedanken! 

 Wir haben uns vor einiger Zeit anlässlich eines gemeinsamen Konzerts zum Thema zeitgenössische Musik kennengelernt. Du warst an einem Tisch gesessen vor einem Laptop, sehr ruhig, fast meditativ und aus den Lautsprechern kamen Geräusche, die ich so vorher noch nie gehört habe. Die Ruhe, die Du ausgestrahlt hast, und die Musik, die ich genießen durfte, hat mich nachhaltig beeinflusst. Wir haben dann CDs ausgetauscht. Deine CD habe ich oft gehört. 

 Ich deine CDs auch, vor allem die „Nacht und Träume“. Ich kannte dich vorher vor allem vom Namen her und habe von ferne immer mit Interesse verfolgt, dass du klassisches Gitarrenrepertoire mit ganz viel zeitgenössischem Material verbindest. An deinen CDs und Konzertprogrammen beeindruckt mich sehr, wie konzeptionell stringent sie aus der Sicht einer bestimmten Idee zusammengestellt sind. Gerade bei „Nacht und Träume“ sind die Auftragskompositionen ja alle einem klaren Programm untergeordnet, das eine romantische mit einer dezidiert zeitgenössischen Klangsprache ohne Brüche verbindet. Da ist ganz klar nicht der ausführende Musiker der „Diener“ der Komposition, wie das ja auch im Neue-Musik-Bereich oft noch gesehen wird, sondern hier ist ein Interpret mit einem sehr selbstbewusst umgesetzten Konzept am Werk. Dieser Ansatz, von einem konzeptionellen Rahmen her zu denken, ist mir persönlich sehr nahe. Und darum habe ich auch nicht gezögert, deine Einladung anzunehmen, als du mich nach Stücken gefragt ist. Weil ich mir dachte: „Der Barcsay traut sich einiges, dem kannst du auch einiges zumuten. Der sagt dir das dann schon, wenn er es nicht gut findet. Aber der hat auch offensichtlich Lust auf Geräusche, also schaff ihm doch den Rahmen, mit seinem Instrument neue Geräusche zu erfinden. Noten können ihm andere besser schreiben.“ 

 Nun haben wir im September ein gemeinsames Projekt. CETACEA ist der Titel des Abends (und auch eine dort gespielte Komposition von Dir) , für den Du mehrere Stücke für Gitarre und Zuspiel komponieren wirst. 

 Genau, alle vier Stücke sollen zum einen aus einem von mir produzierten, mehr oder minder elektronischen oder oft auch geräuschhaften Teil bestehen. Der wird als Zuspieler abgespielt, und dazu spielt der Gitarrist – also du – live nach bestimmten Vorgaben, die ich schriftlich oder mittels Grafiken festlegen werde. CETACEA ist lateinisch, das ist der zoologische Fach-Name für die Wale. Das war das erste der vier Stücke, die ich geschrieben habe, und der Anlass war unser erstes Konzeptionsgepräch für unser Projekt. Da haben wir, ich glaube anlässlich eines Stücks von Enjott Schneider, festgestellt, dass wir beide nicht nur seit langer Zeit Greenpeace-Mitglieder sind, sondern auch von den akustischen Hervorbringungen der Wale fasziniert sind. Da dachte ich mir: Super, gemeinsames Interesse, da müssen wir doch auf jeden Fall was draus machen. Jetzt ist es ja so, dass die zweifellos unglaublich tollen Sounds der Buckelwale ja nicht nur schon fast ein bisschen zum popkulturellen Klischee geronnen sind, vorher aber bereits auf ziemlich hohem musikalischen Niveau verhandelt worden sind – mir fallen spontan „Vox Balaenae“ von George Crumb und „Quasimodo the Great Lover“ von meinem großen Helden Alvin Lucier ein. Wer aber musikalisch noch nicht so sehr gefeaturet wurde, sind die Zahnwale, also auch Delfine und so. Passenderweise haben meine Frau Tine Klink und ich 2017 vor La Gomera im Atlantik ziemlich gute Aufnahmen von Pilotwalen und verschiedenen Delfinarten gemacht. Diese Aufnahmen sollen mehr oder weniger unverändert den Zuspiel-Track für CETACEA bilden, weil ich den Klängen der Tiere eine Bühne bieten will. Der Job des Gitarristen in dem Stück wird es sein, sich den Wal-Klängen mit seinem Instrument ein Stück weit anzuverwandeln – als Respektsbekundung vor der Klangästhetik der Wale, wenn du so willst. Ich suche daher auf der Gitarre nach Wegen, wie man die metallisch klickenden Geräusche dieser Wale auf dem Instrument reproduzieren kann. 

 Ein weiteres Stück nennst Du ECHOES OF INDUSTRY III. Erzähle uns doch, wie dieses Stück entstanden ist, was sich dahinter verbirgt, was Dich an der Möglichkeit der Tonproduktion von Klängen mit der klassischen Gitarre fasziniert hat. Welchen Bezug dieses Stück zu Augsburg hat und speziell etwas über die Biographie von Johann Artner, der von 1947 bis 1989 im Gaswerk Augsburg Oberhausen gearbeitet hat, wie Du im Text zu diesem Stück schreibst. 

 Da fange ich gerne mit Johann Artner und dem Gaswerk an. Also, das Gaswerk Augsburg-Oberhausen ging ja als Gaswerk 2001 außer Betrieb. Daraufhin hat sich – zunächst aus den Reihen ehemaliger Mitarbeiter – der Verein Gaswerksfreunde Augsburg e.V. gegründet, der die Historie des Gaswerks bewahrt und Führungen anbietet und vieles mehr. Und die Stadtwerke als Eigentümerin haben sich überlegt, was sie mit dem denkmalgeschützten Gelände machen sollen. 2007 gab es einen ersten Anlauf der Stadtwerke, das Areal mit Kunstprojekten zu bespielen. Der Architekt und Musiker Christian Z. Müller hat mich damals gefragt, ob ich da nicht Lust hätte, mitzumachen. Ich wollte damals mit einer befreundeten Grafikerin zusammen einen Art sozialgeschichtlichen Themenpfad über das Leben und Arbeiten im Gaswerk machen und habe darum gebeten, mal mit jemandem sprechen zu dürfen, der das Gaswerk noch in Betrieb erlebt hat. Daraufhin hat mir Oliver Frühschütz, der Vorstand der Gaswerksfreunde, den Kontakt zum Vereinsmitglied Johann Artner hergestellt, der eben, wie du bereits sagtest, über 40 Jahre in dem Werk gearbeitet hat. Ich habe ihn 2007 interviewt, und die faszinierenden und teilweise auch erschütternden Geschichten über die Arbeit im Gaswerk – das war eine schwere, schmutzige und durchaus gefährliche Arbeit – sowie eine Führung über das Gelände haben dazu geführt, dass mich das Thema Gaswerk nicht mehr losgelassen hat. Aus diesem Themenpfad wurde dann zwar damals nichts, aber ich habe mich dann klangkünstlerisch über 10 Jahre hinweg immer wieder mit dem Gaswerk befasst, was 2019 auch auf der CD „Gasworks“ dokumentiert wurde. Auf der CD ist auch das elektroakustische Stück „Echoes of Industry“ drauf, das ich zusammen mit demselben Christian Z. Müller gemacht habe, der mich damals sozusagen mit dem Gaswerk „angefixt“ hat. Da werden unter anderem Sounds von historischen Textilmaschinen im Echoraum des großen Scheibengasbehälters in Augsburg-Oberhausen abgespielt. 2019 haben wir zur Vorstellung der CD eine Livefassung davon entwickelt. Das war „Echoes of Industry II“, das im März 2019 im H2 bei einer Veranstaltung der Augsburger Gesellschaft für Neue Musik uraufgeführt wurde. Also in der gleichen Reihe, in der ein halbes Jahr vorher wir auch im H2 beide gespielt und uns kennen gelernt haben. Während der Arbeit an dem Live-Stück mit Christian kam dann deine Anfrage für ein gemeinsames Projekt. Und bei unserem ersten Treffen hast du mir gezeigt, wie du auf einer deiner Gitarren auf rein akustischem Weg quasi ein perfektes weißes Rauschen erzeugen kannst. Das wollte ich unbedingt in unserem Projekt dabei haben, weil ich das eine unglaublich tolle Pointe finde, dass bei einem Programm für Gitarre und Elektronik ausgerechnet die Gitarre das erzeugt, was vermeintlich die ureigenste Domäne der elektronischen Klangerzeugung ist. Denn Rauschgeneratoren waren ja so ungefähr der technologische Anfang der elektronischen Klangsynthese: Eimert, Stockhausen, Studio Köln und so weiter. Aber dieses Rauschen klingt halt auch wie das Zischen von ausströmendem Gas, und so hat es sich total angeboten, das Stück für „Gitarrenrauschen“ mit diesem Themen- und Materialkomplex „Gaswerk“ in Verbindung zu bringen. Und deshalb hört man auf dem Zuspieler die Stimme von Johann Artner und die Sounds dieser Textilmaschinen aus der heute historischen Augsburger Textilindustrie, aber gefiltert durch die Gitarre. Ich habe die Sounds mit einer Lautsprecherkalotte im Korpus einer Gitarre abgespielt und das Ergebnis wieder aufgenommen. Für die Hörer*innen, die den Augsburger Dialekt von Herrn Artner nicht verstehen, und das werden nach meiner Erfahrung einige sein, kann ich übrigens noch kurz erzählen, dass er auf dem Zuspieler unter anderem darüber spricht, wie lange man in einem Gastank ohne Sauerstoffgerät atmen kann, bevor man bewusstlos wird. Er musste manchmal zu Reparaturen mit so einer Taucherflasche in den Gastank rein. Aber man kann die Stimme auch einfach als Sound auf sich wirken lassen. Im Online-Booklet zur „Gasworks“-CD kann man die Geschichten aber auch in Hochdeutsch nachlesen.

Lieber Gerald, Du bist in Augsburg „bekannt wie ein bunter Hund“, wenn ich das so sagen darf. Öfter im Jahr kann man auf Konzerte (Performances) von Dir in Augsburg gehen. Du schreibst selbst, betreust eine Reihe im Brechthaus, zu der Du Schriftsteller einlädst und vorstellst, und vieles mehr. Als was siehst Du Dich selbst, wie ergänzt sich für Dich Poesie und Musik, gibt es eine Priorität in Deinem künstlerischen Schaffen?

Naja, bekannt ist ja immer relativ, aber danke für die Blumen! Das mit dem „bunten Hund“ stimmt aber vielleicht schon insofern, als dass ich relativ viel unterschiedliches Zeug mache oder gemacht habe, als Künstler und als Veranstalter im Lauf der Jahre. Die Literaturreihe „Sprachkunst & Sprengstoff“ im Brechthaus, die du erwähnst, ist allerdings jetzt zum Sommer hin ausgelaufen, weil ich schauen will, dass ich meine Kräfte so ein bisschen bündle. Das hat genau auch mit der Frage nach Prioritätensetzung zu tun, die du angesprochen hast. In meiner Vita schreibe ich immer „Lyriker und Audiokünstler“. Ich würde mich ja selber eher scheuen, mich als „Komponist“ oder „Musiker“ zu bezeichnen, weil ich das einfach meiner Ausbildung nach nicht bin. „Audiokünstler“ ist aus meiner Sicht aber nicht anmaßend, das beschreibt einfach objektiv, dass ich künstlerische Artefakte unter Verwendung von Klang verfertige. Das können dann Radiostücke genauso sein wie Installationen oder Liveperformances oder Platten oder Textpartituren und Zuspieler für Gitarristen. Wenn ich mir anschaue, was ich die letzten 15 Jahre so gemacht habe, dann würde ich sagen – und inzwischen empfinde ich es auch so, auch wenn ich es mir lange nicht eingestehen wollte, weil das Literaturding schon so früh so ein wichtiger Bestandteil meiner Selbstdefinition war, ich hab ja schon mit 17,18 angefangen, mit dem Zeug aufzutreten und eine Zeitschrift rauszugeben und so – also, ich würde sagen, dass alles, was mit Sound zu tun hat, klar Priorität hat. Ich finde zum Beispiel, auf einer anderen musikalischen Schiene als der, auf der unser Projekt läuft, dass auch einige der Songtexte, die ich für die Band Jesus Jackson und die grenzlandreiter schreiben durfte, zu meinen besten lyrischen Arbeiten gehören.

Neben den künstlerischen Aktivitäten hast Du einen „regelrechten“ Beruf, dem Du nachgehst. Du arbeitest für die Stadt Augsburg im Abraxas-Kulturhaus und organisierst dort verschiedene Veranstaltungen. Bleibt Dir genug Zeit für das eigene künstlerische Schaffen? Wie ist die Arbeit im Abraxas gerade was den Kontakt mit anderen Künstlern betrifft? Kannst Du kreative Vorschläge machen?

Das Kulturamt betreibt das abraxas ja als Mietbühne, auf der ganz unterschiedliche Künstler*innen ihre Arbeit präsentieren können. Ich bin also dort kein künstlerischer Leiter, der das Programm kuratiert, sondern Dienstleister, der den Künstler*innen hilft, ihr Programm professionell aufzuführen. Das macht viel Spaß, weil man dadurch mit sehr unterschiedlichen künstlerisch tätigen Menschen in Kontakt kommt, lässt aber auch noch kreative Ressourcen für eigene Projekte übrig. Was ich im abraxas kuratorisch eingebracht habe, ist vor allem die Gründung der Klangkunstgalerie „loop30 – der Hör-Raum im Kulturhaus abraxas“, die regelmäßige Durchführung von Veranstaltungen zur Geschichte des Gebäudes und die Kooperationsreihe mit dem Jüdischen Museum Augsburg Schwaben.

Gerald, lass uns auf Deine künstlerische Arbeit zurückkommen. Gibt es eine entscheidende Situation, die Dich auf die elektronische Musik gebracht hat? Gibt es Vorbilder, wichtige Interpreten, Komponisten?

Meine formale musikalische Ausbildung beschränkt sich ja auf den in der Pubertät erfolglos abgebrochenen Versuch, Gitarre zu lernen. Meiner Ausbildung nach bin ich Literaturwissenschaftler. D.h. die Auseinandersetzung mit Sound war lange eher ein Hobby. Der Gedanke, das sozusagen „ernsthaft“ zu verfolgen, kam eigentlich in den frühen 2000er-Jahren durch die Beschäftigung mit dem Medium Hörspiel zustande, die Arbeit von Klaus Schöning im Studio Akustische Kunst des WDR war da ganz wichtig. Eine ganz entscheidende Situation war die Lektüre eines Interviews mit Luc Ferrari von 1970 oder so, wo er – ganz im Geiste von '68 – emphatisch dafür plädiert, dass mit dem Tonbandgerät jetzt auch Laien ihre eigene Musik machen können und sollen. Da dachte ich mir: Okay, damit bin ich gemeint. Ich darf das also auch! Luc Ferrari ist auch neben Alvin Lucier und Phill Niblock einer der Komponisten, die ich wirklich als Vorbilder nennen würde.

Wie stehst Du zur zeitgenössischen ernsten Musik?

Komisch, bei dem Begriff „ernste Musik“ muss ich immer an Deutschland denken. Ich würde nie drauf kommen, Lucier oder Niblock da einzusortieren, obwohl die natürlich Kunstmusik machen. Aber das passt eh, denn mein Lieblingskomponist unter den jüngeren zeitgenössischen Komponisten ist auch ein deutscher Komponist, Johannes Kreidler. Sein Ansatz einer Konzeptmusik ist mir sehr nahe, und der macht sich – wie ich finde – sehr kluge Gedanken über Musik und Gesellschaft.

Hast Du in Deiner Arbeit mit elektronischer Musik Berührungspunkte, wie z. B. mit der Musik von John Cage, K.H. Stockhausen, P. Boulez u. a.?

Cage war super-, superwichtig als Anreger, wie wahrscheinlich für fast jeden. Den hätte ich bei den Vorbildern auch nennen können, aber der ist ja wie gesagt praktisch überall. Wie ich natürlich bei so Sachen, wie ich sie für dich geschrieben habe, sowieso total auf den Errungenschaften der 60er-Jahre aufbaue – dass ein Text überhaupt eine Partitur sein kann. Boulez hat mich nie interessiert, den habe ich immer nur ganz parteiisch als den langweiligen serialistischen Gegenspieler von Cage wahrgenommen. Und mit Stockhausen kenne ich mich gar nicht so gut aus, wie man denken könnte, weil ich mich selber gar nicht so sehr als elektronischen Musiker sehe. Ich bin jemand, der Geräusche aufnimmt und die bearbeitet. Also in den 50er-Jahren wäre ich quasi auf der Seite der Franzosen um Pierre Schaeffer gestanden, nicht von Stockhausen und dem Studio Köln. Wobei ich neulich mal die Vorlesungen von Stockhausen in, ich glaube, Cambridge, über elektronische Musik gehört habe von 1970 oder so. Da war ich ziemlich beeindruckt, nicht nur, dass er so gut Englisch konnte, sondern auch von der unheimlich klaren Darlegung.

Gibt es Schnittpunkte zum Jazz, ganz besonders zum Free Jazz um 1960 in New York oder Chicago?

Philadelphia nicht zu vergessen! Da war doch meines Wissens die Homebase von Sun Ra, und den würde ich unbedingt dem Free Jazz zurechnen wollen. Bei Jazz bin ich überhaupt kein Experte, aber alle meine Lieblings-Jazzplatten kann man dem Free Jazz zurechnen. Zum Beispiel Archie Shepp live in Antibes, das hat eine konfrontative und zugleich kathartische Energie, die ich sonst fast nur in – oft japanischer – Noise-Musik erlebe. In meiner eigenen Praxis habe ich lange mit der Idee geflirtet, dass freie Improvisation so eine Art Metapher für eine freie Gesellschaft sein kann, wie das ja von Vertreter*innen der freien Improvisation in Europa immer wieder vertreten wurde. Aber letztlich überzeugt mich das nicht, das kann auch zum Klischee gerinnen. Ich finde schon, es muss eine gewisse Konfrontation spürbar werden, das mag ich dann auch an zeitgenössischem Jazz immer am liebsten, wenn's krachig wird. Das wohl aggressivste und härteste Konzert, das ich je erlebt habe, 1997 oder so, war eines von Peter Brötzmann mit einem Trio. Ich dachte ja, aufgrund meiner Punk-Sozialisation sei ich einiges gewohnt, aber das hat mich völlig unvorbereitet getroffen und komplett umgehauen.

Lieber Gerald, abschließend noch die Frage nach der Perspektive in der nächsten Zeit. Gibt es interessante Projekte, Konzerte und Arbeiten?

Ja, im Juni ist mein letzter Gedichtband „motörhead klopstöck“ erschienen, und als Nächstes bereite ich wieder zwei Sound-Projekte vor, die dann im Vorfeld von unserem gemeinsamen Konzert stattfinden. Am 12. September spiele ich im Duo „Recorder Recorder“ mit unserer gemeinsamen Kollegin Elisabeth Haselberger beim Festival „Hörsturm“ in Ried im Innkreis, sofern Corona das zulässt. Und davor noch, am 30. August, mache ich ein Radiostück live im Studio von Radio freeFM in Ulm, das heißt „Passagen. Werk für Walter Benjamin“.

Danke Dir für das Gespräch, ich freue mich sehr auf das Konzert mit Dir und nochmals vielen Dank für die Stücke, die Du für mich geschrieben hast.

Es war mir ein Vergnügen. Das Schreiben und das Gespräch. Danke!



mehr von Gerald Fiebig: http://www.geraldfiebig.net


Stefan Barcsay spielt Gerald Fiebig


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Gespräch mit  LARISA VRHUNC

Foto: LARISA VRHUNC, Ljubljana, vor der Franzikanischen Kirche, dem Ort der UA von PIETÀ am 15. Sept. 2020

Liebe Larisa, lass uns unseren Hörern und Lesern kurz erzählen, warum ich ein Interview mit Dir mache. Vor einigen Jahren habe ich ein Streichquartett von Dir gehört. Es war in einem Konzertabend in Berlin mit dem Kairos Quartett. Die Musik hat mich nachhaltig beeindruckt und so wie ich es öfter mache, habe ich versucht mit Dir in Kontakt zu treten (kurz zur Erklärung, ich spiele Konzerte mit zeitgenössischer Musik und das ausschließlich mit Kompositionen, die für mich geschrieben werden und die ich anrege). Es war nicht ganz einfach, einen Kontakt mit Dir herzustellen, Du hast keine Homepage, keine Adresse in einem Institut usw. Ich glaube, ich habe damals Deine e-mail-Adresse über den Berliner Cellisten Claudius von Wrochem herausbekommen. Nun werde ich im September in der Franziskanerkirche in Ljubljana Dein Stück PIETÀ uraufführen. Du hast es für mein neues Projekt AUF DEM WEG ZUR PIETÀ geschrieben.

Erzähle uns doch etwas über Deine Kindheit und Jugend, wer waren Deine Eltern? Welches Instrument hast Du erlernt? Wie ist Deine berufliche Laufbahn? Gibt es einen Kompositionslehrer, der für Dein eigenes Schaffen wichtig war? Welche Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts waren für Dich wegführend?

Ich bin in Ljubljana, Slowenien, aufgewachsen. Die Tante meiner Mutter war Pianistin, und mein Vater war in jungen Jahren ein recht guter Klarinetten- und Saxophonspieler, aber sein Hauptberuf war Maschinenbau. Ich glaube, er vermisste die Musik sehr, und dies war eine meiner Hauptmotivationen, Musiker zu werden - ich wollte seinen "Fehler" nicht wiederholen. Meine Mutter ist Biologin und eine begeisterte Zuhörerin von Kunstmusik aller Art. Meine High-School-Ausbildung konzentrierte sich auf die Naturwissenschaften, erst später wechselte ich zur Musik. Ich habe schon früh angefangen, Blockflöte zu spielen, mein Vater überzeugte mich, dass es eine kleine Klarinette sei, er war auch mein erster Lehrer. Dann kamen Flöte und Klavier, was sich als nützlich erwies, da es mir ermöglichte, neben Komposition auch Musikpädagogik zu studieren. Nachdem ich mein Studium an der Musikakademie von Ljubljana abgeschlossen hatte, ging ich nach Genf und anschließend nach Lyon, um mein Kompositionsstudium fortzusetzen. Ich habe auch Kompositionskurse besucht. Auf diese Weise lernte ich Brian Ferneyhough kennen, dessen Lehrtätigkeit meine Art des musikalischen Denkens am stärksten geprägt hat. Meine erste Anstellung war die Wahl der Hintergrundmusik für Theaterstücke und Poesie beim slowenischen Radio, und dann verschiedene Lehraufträge, die ich in den letzten 20 Jahren an der Musikwissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät in Ljubljana ausgeübt habe. Es ist schwer, Komponisten zu nennen, die mich besonders beeinflussen würden, aber es gibt eine ganze Reihe von ihnen, die ich bewundere, wie Ligeti, Lachenmann, Nono, Grisey ... und natürlich viele Komponisten meiner Generation oder jüngere.

Soweit ich informiert bin, arbeitest Du an der Universität in Ljubljana. Was machst Du da konkret? Hast Du neben Deiner Tätigkeit als Professorin noch genug Zeit zum Komponieren und wie organisierst Du Dir den Tag, um dafür Freiraum zu haben?

Zeit zu finden, ist eine große Herausforderung. Ich lehre an der Musikwissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana. Mein Lehrgebiet ist die Musikanalyse ab 1700 sowie eine für Musikwissenschaftler angepasste Gehörbildung, d.h. der Schwerpunkt liegt auf der auditiven Analyse von Stücken aus verschiedenen Epochen. Die beruflichen Anforderungen haben mich veranlasst, einige wissenschaftliche Texte zu veröffentlichen, von denen der größte ein Buch über Einflüsse der Spektralmusik auf slowenische Komponisten und ein Handbuch der Musikformen ist. Ich unterrichte gerne, würde aber auch gerne mehr Zeit zum Komponieren haben. Meistens komponiere ich in den Ferien, aber wenn ich an einem spannenden Projekt arbeite, das ich zu Ende bringen möchte, arbeite ich nachts, so dass ich nur wenig Schlaf habe. Ich bin nicht sehr gut darin, meine Zeit zu organisieren, weil ich mich sehr intensiv oder überhaupt nicht engagiere, was bedeutet, dass ich nicht aufhören kann, das zu tun, was ich begonnen habe, wenn es an der Zeit wäre, zu etwas anderem überzugehen, und auf der anderen Seite kann ich mich nicht so leicht konzentrieren, so dass ich etwas Zeit brauche, bevor die Dinge anfangen zu geschehen.

Du hast ja einige Kompositionen für verschiedene Instrumente geschrieben, wie das Streichquartett von dem ich vorhin sprach und jetzt das 2. Stück für Gitarre (Na Vetru – Im Wind hast Du mir zur Verfügung gestellt, ich habe es auf meiner letzten CD NACHT UND TRÄUME eingespielt). Gibt es ein Lieblingsinstrument für Dich, eine Instrumentenkombination, die Du bevorzugst?

Ich fühle mich mit Instrumenten mehr zu Hause als mit Stimmen, obwohl ich auch Vokalstücke geschrieben habe. Ich finde es extrem schwierig, für ein Soloinstrument zu schreiben, da es weniger gleichzeitige Farbschichten gibt. Am besten gefällt es mir, wenn ich ein Ensemble zur Hand habe, je fremder die Instrumentenkombination, desto besser. Ungewöhnliche Kombinationen zwingen einen dazu, nach Lösungen zu suchen, die nicht die naheliegendsten sind, und das erlaubt mir, dorthin zu gehen, wo ich noch nicht war. Ich finde diese Erforschung der Klangmöglichkeiten wirklich spannend.

Speziell zu dem letzten Gitarrenstück PIETÀ hätte ich ein paar Fragen: Es gibt Teile, die sind in traditioneller Schreibweise und Spieltechnik und andere, die sind völlig neu geschrieben. Wie gehst Du mit den neuen Spieltechniken um, probierst Du das vorher quasi improvisierend aus, hast Du bereits Klangvorstellungen, die Du versuchst zu finden? Vielleicht für den Hörer kurz erklärt: Die Gitarre ist teils präpariert mit einer Büroklammer über mehrere Saiten, andere Saiten sind vierteltönig gestimmt, es gibt perkussive Elemente wie auch Flüstern des Gitarristen von 2 Texten des libanesischen Philosophen und Schriftstellers Khalil Gibran usw.

Normalerweise gehe ich von einem Klangbild aus und versuche dann herauszufinden, wie ich es erreichen kann. Wenn ich das Instrument zur Hand habe, improvisiere ich, um zu sehen, ob meine Idee funktionieren könnte. Auf dem Weg dorthin entdecke ich auch neue Dinge. Oder ich bitte die Musikerinnen und Musiker, mich ihr Instrument für eine Weile benutzen zu lassen oder mir zu helfen, die Klänge zu finden, die ich suche: Ich beschreibe die Art des Klangs, schlage eine mögliche Technik vor, und der Instrumentalist probiert sie aus und sagt mir, ob sie praktisch, leicht oder schwer zu kontrollieren ist, und schlägt andere Lösungen vor. Ich liebe diesen Teil des Prozesses. Erst wenn ich meine Klangsammlung fertig habe, beginne ich zu komponieren. Wenn ich das Instrument zu Hause habe, schaue ich auch während des Kompositionsprozesses immer wieder nach. Für das PIETÀ benutzte ich meine Gitarre, ich machte eine Liste aller möglichen Fingersätze, Techniken, für die ich mich entschied, die sich daraus ergebenden Tonhöhen usw., ich hielt das Instrument auf meinem Arbeitstisch vorbereitet und verstimmt und testete alles, bevor ich die endgültigen Entscheidungen traf. Das andere Problem war, wie man das alles klar genug notieren konnte.

Liebe Larisa, in dem Vorwort zu PIETÁ schreibst Du: “Number 7 plays an important role in the construction of the piece. It symbolizes the seven sorrows of Mary, as well as the seven parts of a vertical line passing through the Pietà statue of the Bolzano Cathedral, a picture proposed by Stefan Barcsay as an inspiration.” Kannst Du uns das erklären?

Die sieben Sorgen sind die offensichtlichste Ebene, ebenso wie die Symbolik der Zahl 7. Aber als ich die Pietà-Statue betrachtete, die Du vorgeschlagen hattest , und versuchte herauszufinden, wie ich mich zu ihr verhalten sollte, rief sie einerseits die möglichen zugrunde liegenden Emotionen hervor: Wie fühlt sich eine Frau an Marias Stelle, welche Art von innerem Dialog könnte in einer so extremen Situation stattfinden. Es ist völlig gegen die Natur, dass eine Mutter ihr Kind beerdigen sollte, es geht darum, die stärkste emotionale Bindung zu brechen, die möglich ist. Die Statue erzählte mir von einer Art Akzeptanz mit Gnade, die ich sehr bewunderte. Diese Überlegungen lenkten mich auf die Texte, die ich für meine Arbeit wählte. Während ich die Statue betrachtete, fiel mir noch etwas anderes auf: Wenn man die Statue vertikal durch die Mitte vom Kopf Mariens bis zum Boden durchquert, gibt es sieben verschiedene Oberflächentexturen: 1- Schleier der Maria / 2- Gesicht / 3- Hals / 4- horizontale Falten des äußeren Gewandes (blau) / 5- inneres Gewand) (rot) / 6- Körper Jesu / 7- Mantel, der Mariens Knie und Füße bedeckt Sie werden in musikalische Texturen umgewandelt, deren Dauer in etwa den Proportionen auf der Statue entspricht. Eine der Texturen ist eine Folge von 7 Akkorden, die fast bis zum Ende des Stückes immer wieder auftauchen.

Max Nyffeler, der sich um die zeitgenössische Musik große Verdienste gemacht hat, hat Dich “in den Klan der slowenischen Komponisten” eingeordnet. Siehst Du Dich in solch einer Schule, hast Du eine gewisse Zugehörigkeit?

Ich weiß nicht genau, was er im Sinn hatte. Ich vermute, er dachte an Uroš Rojko, Vito Žuraj, Nina Šenk und vielleicht an einige andere slowenische Komponisten. Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten haben wir vielleicht einen gewissen gemeinsamen Schwerpunkt auf den Reichtum und die Verfeinerung des Klangs gelegt. Ich könnte nicht sagen, dass es so etwas wie eine slowenische Schule gibt, da wir alle im Ausland entstanden sind, meist in verschiedenen Regionen Deutschlands, aber nicht ausschließlich. Slowenien war früher ein recht konservativer Ort, vielleicht hat dieser gemeinsame Hintergrund gewisse Spuren hinterlassen.

Liebe Larisa, was sind Deine nächsten Schritte, gibt es neue Pläne, was ist für Dich wichtig in Deinem Leben in der nächsten Zeit?

Aufgrund des Coronavirus wurden viele Veranstaltungen abgesagt, und auch ihre Zukunft ist ungewiss. Unter anderem der Posener Frühling, wo mein neues Saxophonquartett uraufgeführt werden sollte. Ich werde diese zusätzliche Zeit nutzen, um einige Details in dem Stück zu korrigieren. Das nächste Projekt war ein Streichquartett mit Elektronik für die Zagreber Biennale 2021, aber sie mussten ihr Programm für die nächste Ausgabe aus Geldmangel erheblich reduzieren. Kroatien wurde sowohl wirtschaftlich (es ist ein Tourismusland) als auch von einem schrecklichen Erdbeben auf der Spitze des Landes schwer vom Virus getroffen. Deshalb werde ich im Sommer stattdessen an einem Streichsextett arbeiten, und dann gibt es das Projekt Misoginy, ein Experiment mit einem halb konzertanten, halb Puppentheater. Der Konzertteil ist bereits fertig, das Set mit 5 Stücken wurde im November letzten Jahres aufgeführt, aber die Hintergrundmusik für den Show-Teil muss noch gemacht werden, wenn die Situation die Proben erlaubt. Die Uraufführung war für das Frühjahr 2021 geplant, aber jetzt ist sie ungewiss. Eine weitere Ungewissheit, die mir sehr am Herzen liegt, ist ein neues Festival für zeitgenössische Musik, das einige von uns versuchen, in Ljubljana zu starten. In den letzten 20 Jahren gab es ein ausgezeichnetes Festival des Holzbläserquintetts Slowind, das wesentlich zur Entwicklung der zeitgenössischen Musikszene hier beigetragen hat, und 2018 hat das Kulturministerium aus unbekannten Gründen seine Unterstützung gekürzt. Inzwischen ist klar geworden, dass dies ein großer Fehler war, aber das alte Festival ist verschwunden. Das neue Festival erhielt sogar die Unterstützung der Siemens-Stiftung für das Jahr 2020, aber unter den neuen Umständen ist nicht klar, was wir tun können. Hoffen wir alle auf das Beste!

Ich bedanke mich recht herzlich für das Interview und freue mich auf die UA in Ljubljana.

Ich freue mich auch sehr auf Dein Konzert in Ljubljana und danke Dir für Deine Fragen.


Das Gespräch mit Larisa Vhrunc zum Herunterladen (PDF)


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